Die Geschichte, wann und wie der Mythos der Reeperbahn, die Legen- de von Freiheit und Weltoffenheit entstanden und erneuert worden ist, ist oft genug erzählt worden. Wichtig ist: Es gibt ihn. Da ich mich selbst, als Quiddje, irgendwann mal entscheiden musste, wem genau ich in Zukunft auf die Nerven gehen will, hat der Ruf der Meile wahr- scheinlich auch mich einmal erreicht. So ganz genau kann ich mich nicht daran erinnern. Ich weiß nur noch, dass man dem Wettbewerber Berlin in den späten 80er-Jahren immer gerne mal gesagt hätte, was man glaubte, dass es selbst nicht verstanden hätte: International sein zu wollen ist nicht international, sondern provinziell. Aus der Provinz kommend, hatte man einen guten Riecher dafür. Hamburg war anders. Hamburg ruhte ganz in sich. Da wollte niemand irgendwo hin oder etwas anderes sein. Manche nannten das auch arrogant. Aber das ist lange her, und sowohl in Berlin als auch in Hamburg hat sich seitdem einiges getan. Leute wie ich sind hergezogen, haben sich an der Uni ein- geschrieben und die Hamburger Schule (Pausenbrot: Bier) gegründet, weil man dachte, das gehört sich so.
Die ersten Konzerte fanden auf dem Tresen des Lehmitz statt und im Folgenden dann vor allem in Clubs, die heute nicht mehr existieren, weil niemand lange einen Club betreiben kann, in den vielleicht gerade mal 150 Leute passen. Das ist zu klein, um reich zu werden und zu groß, um keine Schulden zu ma- chen. Genauso verhält es sich übrigens auch mit der Musik(industrie). All die kleinen Labels, von denen ich in den 80er-Jahren Fan war, haben höchstens ein bis zwei Jahre existiert oder die Künstler um ihr Geld betrogen. Wir haben es trotzdem, schon in den 90ern wieder ver- sucht und tun es noch immer. Und auch die Clubs heute kämpfen mit Bestimmungen, die für Leute gemacht sind, denen der Kulturbetrieb egal ist, oder damit, dass ihnen jemand ein fünfstöckiges Hotel aufs Dach bauen will. Überall dieser Kampf um ein kleines bisschen Frei- heit. Dabei ist es doch das, was alle suchen auf dem Kiez: die große und die kleine Freiheit.
Dass die für jeden etwas anderes bedeutet, ist ja bekannt. Die kleine Freiheit kann darin bestehen, seine Kiezkneipe trotzdem durchzubrin- gen, against all odds sozusagen, indem man es nicht so genau nimmt mit den Angaben bei der Steuer, sodass einem am Ende hinterm Tre- sen die Knie schlottern. Und man hängt halt an dem Ort, an dem Mi- lieu. Das sind nicht nur Kunden hier, das sind Freunde. Und dann schenkt man ein bisschen mehr ein, und das Finanzamt nimmt einem den Wareneinsatz hinterher auch wieder nicht ab. In meinem Freun- deskreis wird gerade gefahndet nach so einem, der sich nicht mehr se- hen lassen will, weil ihm da ein Malheur passiert ist. Überall zwischen Pferdemarkt und Nobistor stecken Geheimagenten ihre Köpfe aus den Fenstern, nur um ihm zu helfen, wenn sie ihn denn sähen. Alle machen sich Sorgen. Da ist manchmal so viel Solidarität zwischen den Leuten, dass man heulen könnte.
Und dann die große Freiheit. Das ist erst mal was! Ich empfehle jedem Kiezbesucher zum Abschluss seiner Tour einen sonntäglichen Spazier- gang durch Planten un Blomen rund um das Untersuchungsgefängnis herum. Erinnert sich noch jemand an die Kampagne der Musikindus- trie gegen die „Raubkopie“ in den Nullerjahren? „Nur noch dreimal singen?“ Genau so. Klar, wenn es das Ziel einer Karriere ist, irgend- wann eine Luxusautomobilie mit Bargeld bezahlen zu können, kann auf dem Weg dahin und auch danach noch einiges schiefgehen. Man fragt sich als Unbeteiligter, warum das überhaupt noch möglich sein soll? Drogen- und Menschenhandel jedenfalls haben ihren Preis und finden statt. Ganz allgemein kann man sagen, dass Dinge stattfinden, von denen das Hamburg Marketing nicht so gern berichtet, die Presse aber schon. Man sollte sich als Besucher überlegen, wem und für was man seine Kohle hergibt. Immerhin werden Menschen heutzutage nicht mehr nackig in kleine Buden gesetzt, sodass Gaffer sich an ihnen aufgeilen können. Ja, das war mal legal. Und zwar lange nach den Beatles. Ein gesellschaftlicher Fortschritt findet also statt. Oder etwa nicht?
Apropos Beatles. Weiß ja jeder, dass die nicht vom Himmel gefallen sind, sondern in den Star-Club. Das christlich protestantisch geprägte St. Pauli hat die Beatmusik damals schon ebenso kritisch gesehen wie die Prostitution, die Drogen, die Dealer und all das. Wie viele das heu- te noch tun. Aber eben mit einem Gefühl von „leben und leben lassen“, das mehr ist als einfach nur Toleranz, von der schon Goethe gesagt hat, dass sie nicht ausreicht. (Ressentiments gegen Homosexualität und andere Dinge, die niemanden etwas angehen, erwähne ich bewusst nicht, um meine Argumentation nicht zu stören.)
Tolerant ist immer der Stärkere gegenüber dem Schwächeren oder die Mehrheit gegenüber der Minderheit. Aber, und jetzt kommt Brecht: „Die Verhältnisse, die sind nicht so.“ Bei dem Durcheinander hier sind die Mehrheitsverhältnisse flexibel, und wir alle, fast alle, Bewohner von St. Pauli hoffen, dass das auch so bleibt.
„Wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt“, ist ein Lied, das ich mal ge- schrieben habe, ohne zu wissen, was ich tat. Es handelt sich um eine Heimatschnulze. Die hässliche kleine Schwester von Frank Sinatras „New York, New York“. Sie sagt aber nicht: „Wenn du es hier nicht schaffst, schaffst du es woanders erst recht nicht“, sondern: lieber auf St. Pauli scheitern als irgendwo anders gewinnen.
Das klingt cool, darf aber nicht vergessen lassen, dass dem Begriff „Heimat“ die Ausgrenzung schon eingeschrieben ist. Vor der Romantik war Heimat noch sachlich, ein rechtlicher Begriff, der den Bereich um das Heim herum bezeichnete. Heimat als Gefühl ist eine Waffe gewor- den, mit der sich alles und jeder außen vor lassen lässt. So weit dürfen wir nicht gehen. Die Türen müssen offen bleiben.
So wie bei Crazy Horst an der Hein-Hoyer-Straße die Türen fast immer offen sind. Irgendwann spät, ein Freund schleppt mich mit rein, um mir etwas zu zeigen. Ich so: „Hä, hast du immer noch nicht genug, oder was?“ Er so: „Nee, guck mal in der Jukebox.“ Ich so: „Wow.“ „Wenn dir St. Pauli …“ in der Jukebox vom Crazy Horst. Wenn es einen Ort gibt, an dem ein Song Leben retten kann, dann ist es dieser. So muss es sich anfühlen, einen Echo zu retournieren. Und die Gesellschaft war dann auch noch ganz nett.